Dienstag, 5. Januar 2010

Das selbstorganisierte Europa – ein Modell?

Lieber Michael,
Vielen Dank für Deinen letzten Beitrag. Deine Überlegungen waren für mich motivierend und notwendig da diese für mich die Motivation für die nächsten Schritte darstellten. Sie haben den Pfad über die Zeitenwende hinweg wieder sehr klar erkennbar gemacht. Eine neue Phase der Selbstorganisation, ausgelöst durch alle zu erwartenden Änderungen und Begrenzungen, ist mir erst wieder durch Deine Überlegungen in ihrer ganzen Tragweite für Umwelt und Gesellschaft als Gebot der Stunde bewusst geworden.
Also „mutig in die neuen Zeiten“. Als ersten Schritt dahin sehe ich eine Wiederbesinnung auf die Notwendigkeit von relevanten räumlichen und zeitlichen Systemgrenzen, d.h. Demarkationslinien in unserem Bewusstsein zu etablieren. Diese könnten es ermöglichen das elementare Kreislaufgefüge der menschlichen Subsistenz (der täglichen Notwendigkeiten) wieder überschaubar, beurteilbar und lokal rückkoppelbar zu gestalten. Meines Erachtens ist für die notwendige lokale Steuerung unserer unmittelbaren und zukünftigen Belange vorrangig die Kenntnis dieser physischen Grenzen vonnöten. Globale Überlegungen scheinen erst dann Sinn zu machen wenn durch eine Neugestaltung der lokalen Strukturen bzw. die Schließung der lokalen Stoffkreisläufe und verlustarmen Kopplung derselben eine Voraussetzung für eine neue übergeordnete Ebene bilden. Die Klimakonferenz in Kopenhagen hat mich in dieser Hinsicht bestärkt, da sie gezeigt hat, dass der sich stark verändernde Klimaprozess kaum durch das Drehen an nur einer Schraube unter Zuhilfenahme einer Theorie auf tönernen Füßen beherrschen lässt.
Wir sind uns wahrscheinlich einig, dass uns nur ein gewaltiger evolutionärer Schritt der Selbstorganisation an das rettende Ufer einer neuen Zeit bringen kann. Wie könnte man sich jedoch auf einen solchen Schritt vorbereiten? Ich sehe den ersten aktiven Schritt dazu in der Entrümpelung nicht mehr zeitgemäßer Strukturen und der Bekämpfung moderner Existenzängste auf lokaler Ebene. Es scheint, dass eine vom Bruttosozialprodukt und einer Arbeit wie sie heute politisch verstanden wird, abhängige soziale Grundsicherung in Zukunft kaum möglich ist. Sie scheint nur in einer rigide verwalteten und durch immanente Ineffizienz die Ressourcen vergeudenden Wachstumsgesellschaft möglich.
Nach den Erkenntnissen von Leopold Kohr „Das Ende der Großen“ scheint die Effizienz von „Wachstumsgesellschaften“ nach Erreichen eines kurzen Optimums durch weiteres Wachstum wieder abzusinken. Die Natur regelt dieses Wachstum über eine Rückkopplung an eine damit verbundene Umwelterschöpfung, zunehmende Instabilität und Tod. Die Gesellschaften haben es bis zum gewaltigen Flächenbrand der Weltkriege mit einer immensen Zerstörung von Umweltressourcen als Folge, durch kleinräumigere Kriege und einer Reduktion der Populationen geregelt. Umwelt und Gesellschaft wurden durch Rückkopplungen in Balance gehalten und der Prozess wurde wie vielfach angenommen durch schicksalhafte Entwicklungen oder mehr oder weniger gut gesinnter Götter gesteuert. Der Wandel der Kriege von einer populationsregelnden Maßnahme zu einer vorrangig ressourcenzerstörenden Tätigkeit wurde im vorigen Jahrhundert vollzogen. Die darauf folgende globale Ökonomie mit ihrem Neokolonialismus sowie die wild wuchernde globale Logistik haben zwar der Welt eine relativ lange und friedliche Periode aber auch durch zunehmende Öffnung der natürlichen Kreisläufe an die Grenzen ökologischer Tragfähigkeit gebracht. Entwertete Umweltressourcen in Form von zunehmender Verwüstung und schier irreparable Klimaprobleme bzw. Kühlproblemen waren die Folgen. Gleichzeitig degradierte in unseren pluralistischen Wissensgesellschaften aber die Fähigkeit die weltweit verteilten Prozesse in ihrer Kohärenz zu erkennen, zu beurteilen geschweige denn mit Hilfe der Wissenschaften und Politik zu steuern. Der Scherbenhaufen von Kopenhagen scheint die Folge einer Politik zu sein, Schulen, geistige Bildung und Fähigkeiten nur dann zu fördern, wenn sie einigen mächtigen Verbänden in der Gesellschaft als Alimentationsgrundlage dienlich scheinen.
Hier müsste nun der selbstorganisatorische Evolutionsschritt erfolgen und im „Homo sapiens“ das „Eroberungsgen“ durch ein „Überlebensgen“ ersetzen. Zugegeben ein schwieriges Unterfangen aber vom Ansatz her durchwegs denkbar. Insbesondere könnte dies wahrscheinlich werden, wenn man sich Gedanken machte eine Deckung des Geldwertes durch die Anhebung des Bodenwertes gemessen an seiner Steigerung der Nachhaltigkeit und Fruchtbarkeit zu erzielen . Eine Steigerung des regionalen Bodenwertes ist jedoch nur durch die Entwicklung einer perfektionierten lokalen Kreislaufwirtschaft durch Maximierung der Verdunstung machbar.
Eine solche nachhaltigkeitssteigernde Bewirtschaftung ist naturgegebener Weise als vorrangige Aufgabe des Flächenbewirtschafters zu verstehen. Wie wir wissen sind es heute im alten Europa schon fast weniger als 3% der Bevölkerung, die 80-90% der Landesflächen bewirtschaften und dies nach planwirtschaftlichen Ansätzen.
Wie Du siehst, versuche ich Deinen Ball und Dein Bekenntnis zur Selbstorganisation nicht nur aufzunehmen sondern auch eine Argumentationskette des warum wir was ganz anders machen müssten aufbaue. Ist es nicht unsere Sehnsucht, nach Beständigkeit, nach Zukunftsperspektiven, nach Bodenhaftung, nach Heimkehr und Frieden, die uns antreiben wieder eine verortete Heimat zu finden. Die gemachten Erfahrungen nach zwei Weltkriegen und einem Wirtschaftswunder mit der Besonderheit das Geld rascher und rascher durch die Gesellschaft zu pumpen, Neid, Gier und Egomanie in zunehmendem Maß zu fördern um den Ansprüchen der Gesellschaft nach Wachstum gerecht zu werden. Sind wir schon reif geworden unser Streben nach Innovation und sozialer Geborgenheit nicht im Götzen Arbeit und Geld sondern in alternativen Ansätzen einer neuen Vergesellschaftung auf der Basis Dienst an einer menschlichen Gesellschaft zu suchen?
Wäre es nicht möglich wieder den Menschen in einer neuen Renaissance ins regionale Zentrum unserer Gesellschaft und unserer Umwelt zu stellen anstatt sich politisch in polarisierende Parteien zu gruppieren? Sich damit so zu vergesellschaften, dass bis zur Erreichung einer maximalen Kohärenz und Lebensqualität durch Dienstleistungen eine weitere Vergesellschaftung zum gegenseitigen Nutzen erfolgt während sich darüber hinaus weitere soziale Zellen bilden, die als neues Ziel eine weitere Kreislaufschließung und damit Effizienzsteigerung im dynamischen System ergeben. Wäre es nicht vorstellbar, dass der Mensch durch seine Erfahrung mit seiner Umwelt soweit auch seine Intelligenz entwickelt, dass er die zeitlichen Nutzbarkeitsgrenzen seiner Umwelt erweiterte anstatt sie laufend durch beliebiges Handeln entgegen der Entwicklungsrichtung und dem Sinn der Natur die Tragfähigkeit einzuschränken?
Wäre es nicht möglich eine weitgehende Regelung der Gesellschaft durch offene Gesetzesrahmen ohne Universalitätsanspruch aber durch zunehmende Rückkopplungen durch Selbstbegrenzung selbstorganisatorisch mit einem Minimum an Verwaltungsaufwand und so nahe wie möglich am Ort des Geschehens zu erzielen?
Als wichtiges Beispiel würde der Schwerverkehr an die Verursachung der Straßenschäden über die 4te Potenz der Achslasten rückgekoppelt, die Marktpreise soweit beeinflussen, dass ein überregionaler Markt von Subsistenzprodukten (täglich notwendiger Waren für den Bürger) kaum in seiner heutigen Form möglich wäre. Auch eine dezentrale Produktion von Energie und die strikte Anwendung von Marktpreisen ohne Monopole und Subventionierung der Energie für die Industrie würde die Allokation der Prozesse und der Gesellschaft nachhaltigkeitsfördernd verändern (Produktrecycling anstatt Stoffrecycling, Verlängerung der Lebenszyklen für Waren, Kopplung der Subsistenz mit den Siedlungen).
Solche Fragen müssten vom Einfluss der Lobbys befreit und ins Zentrum des gesellschaftlichen Bewusstseins gerückt werden, eine demokratisch gestaltete und gestaltende permanente Kulturrevolution könnte diese neue Renaissance begleiten und versuchen die gesellschaftlichen Gruppen in diesen Prozess einzubinden und auf den lokalen und regionalen Ebenen zu integrieren. Das einzige Kriterium zur Beurteilung des demokratischen Prozesses wäre der Wirkungsgrad bzw. die ökologische Effizienz als richtungssichere Maßzahl für eine nachhaltige Entwicklung.
Die industriebasierte Exportwirtschaft wie auch die arbeitsbasierte Geld- und Bankenwirtschaft haben ihren Zenith bereits weit überschritten und treten spätestens seit dem vorigen Jahr in den historischen Hintergrund. Je mehr Anstrengungen unternommen werden diese bereits schwerkranken und von zunehmenden Infarkten geplagten Gesellschaftsmerkmale wiederzubeleben um so mehr geraten wir ins Hintertreffen mit unserer eigenen Entwicklung. Die vielfach vertretenen Thesen, die Innovation in der Umwelttechnik sowie ein „defizit spending“ in der heutigen Wissensgesellschaft wären ein Rettungsanker für unsere europäische Gesellschaft sind wahrscheinlich rückwärtsgewandt und gestalten unsere Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit eher zu einem Schrecken ohne Ende mit einem hohen Grad an Perspektivlosigkeit unserer Jugend zu Folge. Wenn sich Investitionen in die Zukunft lohnen sollen ist eine grundsätzliche Restaurierung unserer Gesellschaft nötig. Sie muss begleitet sein von völlig neuen Ansätzen in unserer Flächenbewirtschaftung und müsste vorrangig die Revitalisierung unserer Landschaften beinhalten.
Die entscheidende Frage, die ich mir stelle ist die Entkopplung von den selbst-organisatorischen Kräften und dem momentan verfallenden Geldwert. Die conditio sine qua non, das Geld, für gesellschaftliche Innovation und Erneuerung im herkömmlichen Sinn wird kaum zur Verfügung stehen noch ist es im benötigten Maß in einer heutigen Gesellschaft schöpfbar. Den Ausweg stellte einzig der zur Zeit noch immer stark unterbewertete Bodenwert und seine am Realwert neu zu bemessende Besteuerbarkeit dar, anstelle einer weiteren Besteuerung der Arbeit. Die Gewissheit, dass ein „business as usual „ kaum weiter machbar ist, sowie die Unverzichtbarkeit auf einen Sozialstaat ohne die Möglichkeit diesen nur mit ewigem Wachstum zu betreibende ökosoziale Marktwirtschaft fortzuschreiben, lassen wahrscheinlich nur mehr einen Lösungskorridor zu, nämlich umzusteuern und den aktuellen Bodenwert über eine einzige Ressourcensteuer progressiv zu besteuern. Zwei Säulen würden als soziale Sicherungskomponenten dienen. Ein entsprechender Bodenwertfreibetrag am unteren Ende der Bodenwertbesteuerung und eine allgemeine lebenslangen Grundrente mit einer steuerfinanzierten Basiskrankenversicherung in demokratisch zu bestimmender Höhe. Damit könnte eine völlige Deregulierung des Arbeitsmarktes erzielt werden. Der Entfall von staatlichen Rentenversicherungen und teuren Krankenversicherungen könnte die Gesellschaft entlasten. Solche Rahmenbedingungen könnten Märkte neu regeln und eine „tabula rasa „ als gedankliche Basis für neue Zielvorstellungen darstellen. Eine neue Lebensqualität, neue Vergesellschaftungsformen und neue gesellschaftliche Institutionen könnten für eine mehr kreisgeschlossene zellular organisierte Gesellschaft in Zukunft mit mehr basisdemokratischen Elementen darstellen ohne redundante Wahlen Parteien auf fünf bis sechs verschiedenen Ebenen.
Es ist zu hoffen oder zu befürchten, dass die Ängste in der Gesellschaft diesen heute sicherlich noch unerwünschten Restaurationsversuch der Gesellschaft bei Fortführung unserer noch immer polarisierenden, parteipolitischen Wunschvorstellungen eher beschleunigen als verhindern. Die Wissenschaft von der Entstehung von Neuem (emergence) in komplexen Systemen beginnt neue nichtlineare Prozesse an Phasengrenzflächen besser zu verstehen, die sich aus einfachen aber dynamischen Regeln ergeben. Das zunehmend bessere Verständnis der Selbstorganisation und die zunehmende Unzulänglichkeit des Bestehenden scheinen die Triebfedern für eine evolutionäre Selbstorganisation der neuen menschlichen Gesellschaft zu sein.
Ich freue mich schon wieder auf Deine Antwort und wünsche Dir und Deiner Familie nachträglich zum Jahreswechsel noch Gesundheit, Erfolg und Zufriedenheit.

Dein Willy