Montag, 10. Oktober 2011

Neue Bildung ist nötig

Lieber Michael,
Zunehmend überstürzende Veränderungen unserer weltwirtschaftlichen Umwelt sowie die sich häufenden Fehlleistungen unserer von der Wirtschaft alimentierten Wissenschaften haben mich zu einer relativ langen Denkpause veranlasst, für die ich mich bei Dir entschuldigen möchte. Diese Denkpause hat mir allerdings ermöglicht meine Perspektiven zu überprüfen und anzupassen.
Danke für Deinen äußerst stimulierenden Blog über „Selbstorganisation, Politik und ein neues Bildungsideal“. Wir begannen unseren Blog damals mit den Betrachtungen über eine sich ankündigende Wendezeit. Jetzt scheint sich der Zeitpunkt für diese gesellschaftliche Wende rasant zu nähern. Eine Analyse des „Treibers“ für diese Entwicklung scheint die stetig wachsende Lüge bezüglich der notwendigen Rolle des Wachstums in unseren Weltgesellschaften zu sein. Die völlige Offenheit und Deckungslosigkeit unserer Geldsysteme nährt die Versuchung eines jeden Spekulanten soviel Geld wie möglich zu schöpfen. Eine Kontrolle der Geldwirtschaft gibt es dann nicht, wenn die Geldmenge zur Beliebigkeit wird und von jeder Spekulation beeinflusst werden kann.
Das sich immer rascher drehende Spekulationskarussell und die immer rascher und von Computern weltweit ermöglichten Transaktionen und Geldflüsse in Millisekunden scheinen unsere Wirtschaftsweisen für die Zukunft in Frage zu stellen.
Ich habe vorgestern vom sich beschleunigenden OOPs (out of paradigma) Erlebnis gelesen (siehe Link) und muss leider der Analyse eines rapide wachsenden chaotischen Zustandes unseres Planeten zustimmen. Der sich rasch entortet und entzeitlicht verändernde Zustand scheint in der Geschichte vom alttestamentlichen Turmbau von Babel bereits vorausgesehen worden zu sein.
An diesem zunehmend chaotischen Zustand scheinen nun auch Politik und Wissenschaft mitzugestalten. Die Tatsache dass sowohl Atmosphäre wie auch Wasserkreisläufe in ihrer räumlichen und zeitlichen Verteilung hauptsächlich durch sich ständig verändernde aber robuste Lebensprozesse moduliert wurden haben erst über die daraus resultierenden Rückkopplungen den Evolutionsprozess angetrieben. Wir zweifeln dies durch primitivste Simulationsmanipulationen an und stellen die Tatsachen auf den Kopf. Eine statische Artenvielfalt sowie die Konstanz von CO2 in der Atmosphäre sind zur Basis für Nachhaltigkeit und damit zur Staatsreligion erklärt worden. Die Politik, bereits ausgestattet mit dem notwendigen Machtmonopol scheint nun auch unter Hinweis auf pseudodemokratische Rituale („political correctness“) das Monopol der Interpretation von Wissenschaft und Dogmatik des ewig wachsenden Wirtschaftsprozessen anzustreben.
Dieses Handeln wird durch unsere Schulbetriebe wie auch in Universitäten weitergelehrt. Rückkopplungen als Treiber der natürlichen Prozesse werden nicht mehr verstanden sondern verteilungsfreie und reduzierte Simulationsmanipulationen werden zur Basis unseres Verständnisses gemacht. Wir werden wohl wie so viele andere vor uns auf den Müllhalden der Geschichte landen. Tragisch ist dabei, dass unsere Jugend durch die Unkenntnis von den dynamischen bzw. biologischen Prozessen als Lebensgrundlage und den daraus folgenden Rückkopplungen intellektuell wegsortiert werden wird.
Was also tun? Ich glaube dass die vom Menschen immer mehr angestrebte Grenzenlosigkeit ohne Rückkopplungen, die daraus resultierende Hybris sowie die Maßlosigkeit und Gier wichtige Analyseobjekte unserer Schulerziehung sowie Bestandteile in Forschung und Lehre sein müssten, da die Überwindung dieser als eine allgemeine Basis einer natürliche Ethik dienen könnten. Eine natürliche Ethik müsste die Regeln für ein dynamisches Zusammenleben unter der Maßgabe einer ständigen und lebenslangen positiven Veränderung (Menschwerdung) des einzelnen Individuums durch seine Zunahme von Erfahrung und Wissen beinhalten. Die wichtigsten Eigenschaften des Menschen entstehen aus der Interaktion bzw. Kommunikation mit einem menschlichen Umfeld und nicht in der heute gelehrten Interaktion mit den Objekten. Der Themenkomplex erfordert ein Umdenken und eine Neubewertung von Bildungssystemen, ihrer Kosten und Strukturen wenn das Bildungsziel nicht in erster Linie die Ausbildung von zertifizierten Komponenten eines Wirtschaftssystems gefragt sind, sondern wertvolle Mitglieder einer integrierten Gesellschaft bestehend aus allen Generationen und allen Mitgliedern mit Migrationshintergrund. Das Bildungsziel könnte nach der Grundschule und dem Erlernen von den Grundkenntnissen durch frühe Integration in gesellschaftliche Strukturen wie Verwaltung, handwerkliche Berufe, landwirtschaftliche Aktivitäten, technische, wissenschaftliche und soziale Berufe sowie in entsprechenden Weiterbildungsmaßnahmen erfolgen. Die Schulpflicht könnte dann durch einen von der Gesellschaft getragene Bildungs- und Ausbildungsauftrag ersetzt werden. Wobei die Zertifizierungselemente neu überdacht und anders gestaltet werden sollten. Die hohen Kosten des Bildungssystems könnten durch integrierte Bildungsgruppen und Leistungsvergütungen von den Kommunen für Lehrende und Schüler mit Mindestsätzen erheblich gesenkt werden. Der Kenntnishintergrund ist heute einfach und billig durch das Internet zugänglich.
Mir ist natürlich völlig bewusst, dass solche Änderungen erst das Resultat von Versuchen bei positivem Ausgang sein können. Wie komme ich den eigentlich dazu mir darüber den Kopf zu zerbrechen? Ausgangspunkt für die Überlegungen war für mich ein Gutachten mit dem Titel „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation“ vom wissenschaftliche Beirat der (deutschen) Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU). Bei der Lesung dieser Lektüre wurde mir klar, dass eine solche grundlegende geplante Transformation höchst unwahrscheinlich und unbezahlbar wird wenn sie, wie beschrieben, unter den gegebenen Rahmenbedingungen erfolgen sollte. Die erarbeitete Vorgehensweise läuft dabei völlig konträr zu einem natürlichen evolutionären Prozess indem dogmatische Forderung nach heutigen und globalen wissenschaftlichen Kriterien erarbeitet werden und nicht, wie in der Natur vorgesehen kleinste, lokale Lösungskorridore sich unter den gegebenen energetischem Umfeld zu größeren Strukturen vergesellschaften und diese sich im kompetitiven Umfeld als nachhaltiger wachsend erweisen als die Übrigen, die dabei zwangsläufig schrumpfen müssen. Solche kleinen Lösungen werden aus den Rückkopplungen einer sich auflösenden Struktur gezeugt („und neues Leben sprießt aus den Ruinen“). Ich würde annehmen dass es sich bei den Ruinen um die unseres Wirtschaftssystems handelt. Ich glaube auch, dass die Effizienz nur orts- und zeiteingebunden bestimmbar wäre und der evolutionäre Prozess daher nicht simulierbar ist. Ich habe mit Ende des zweiten Weltkriegs als Kind die Wiedergeburt des Wirtschaftswachstums hautnah erlebt. Das heutige Wirtschaftssystem, mag zwar etwas besser an die Gier der Menschen angepasst gewesen sein als die sozialistische Variante. Beide scheinen mir jedoch gleichermaßen zunehmend über die Insolvenz zu verschwinden. Der neue wissenschaftlich fundierte Gesellschaftsvertrag der WBGU op.cit. scheint mir geeignet um diesen Prozess der Erosion eher noch zu beschleunigen.
Ich freue mich schon wenn Du mich besuchen kommst. Beste Grüße Dir und Deiner Familie von Willy

Link: http://sd.defra.gov.uk/2011/09/oops-solving-global-problems-in-complex-systems/