Sonntag, 9. August 2009

Disspation und Evolution - das untrennbare Paar

Lieber Willy,

Vielen Dank für Deine Zukunftspost vom 27.4.09 und bitte um Verzeihung, dass ich erst jetzt mein "Ping" auf dieses "Pong" sende. Der Grund dafür liegt einerseits in den sehr schwierigen persönlichen Verhältnissen, in denen ich mich befunden habe und die wir ja anlässlich Deines Besuchs diskutiert haben. Jetzt wird es etwas freier und ich finde die Muße, Dir zu antworten. Darüber hinaus bin ich derzeit in einem faden Hotel in einer ebenso faden Stadt in den USA; doppelter Grund, sich mit etwas Anregendem zu beschäftigen!
Meine persönlichen Umstände sind aber nur ein Faktor für die späte Antwort. Mindestens ebenso dafür verantwortlich ist die Tatsache, dass Du mir, um in unserer Tischtennissprache zu bleiben, einen ziemlich scharf angeschnittenen Ball serviert hast. Aber das macht ja gerade den Reiz unseres Spieles aus: Wir haben ja von Anfang an beschlossen, dass wir kein braves wissenschaftliches „Pensionistenspiel“ abführen wollen, wo wir stets bemüht wären möglichst nicht an unsere Grenzen zu gehen. Wir wollen Risiko nehmen, und Dein letzter Ball ist nun weiß Gott kein braves Hin- und Zurückgeschupse mit Rücksicht auf die gängigen Lehrmeinungen. Gut so, so soll’s auch weitergehen!
Wie bei vielen schwierigen Bällen beim Ping-Pong muss man einige Schritte zurückspringen, um ihn annehmen zu können und vielleicht noch erfolgreich auf den Tisch zu bringen. Das ist ein weiterer Grund für meine verzögerte Antwort. Was soll man auch auf eine rundherum schlüssige und tiefgreifende Erklärung der Selbstorganisation antworten, ohne in Allgemeinplätze Ausflucht zu nehmen?
Hier nun mein Versuch, wobei ich mich an zwei der von Dir ins Spiel gebrachten Argumente versuchen möchte: Der Entwicklung durch Dissipation und der Vielfalt als Grundlage der Evolution.
Du schreibst sehr treffend und anschaulich über den Vorgang der Dissipation und der überragenden Rolle, die Wasser in unserem Lebenssystem, als das Hauptmedium dieser Dissipation von Energiepulsen spielt. Dieses Argument möchte ich aufgreifen und ein bisschen weiterführen.
Der große und wunderschöne „Trick“ der Natur ist ihre Fähigkeit, aus Energiepulsen Strukturen aufzubauen. Du hast das ja sehr schön und anschaulich beschrieben. Was ich aber aus Deiner Beschreibung besonders hervorheben will ist die Tatsache, dass diese Dissipation eben in einem viel breiteren Spektrum von Wechselwirkungen vor sich geht, als der ursprüngliche Puls. Unsere Natur ist voll von guten Beispielen dafür, angefangen von der mechanischen Bewegung der Luft, angetrieben von der durch die Sonne empfangenen Wärmestrahlung über die von Dir angesprochene Mobilisierung des Wassers durch Verdunstung, das darauf folgende Abregnen und die damit ausgelöste mechanische Bewegung des Wassers vom Berg ins Tal und weiter ins Meer, wo dieser Kreisprozess aufs Neue beginnen kann. Unser Lebensprozess ist selbst ein Beispiel dafür, wo durch die Einstrahlung der Sonne chemische und biochemische Reaktionen organische Substanzen höchster Komplexität aufbauen, die einerseits Strukturen entstehen lassen (alle unsere Lebewesen) und andererseits zwischen den Lebewesen ausgetauscht werden in einem steten Kreislauf des Werdens und Vergehens und wieder Werdens. Das alles ist natürlich sehr einfach dargestellt, Du wirst sicher die tiefere Wissenschaft in einem „Pong“ nachliefern.
Worauf ich hier hinaus will ist aber, dass Dissipation die ursprüngliche Qualität der ausgetauschten Wechselwirkung quasi „hinauftransformieren“ kann und zu Wechselwirkungen in viel höher organisierten Systemen führt.
Ich will das ein wenig ausführen. Wir wissen, dass Energie selbst eine strukturierte Wechselwirkung ist. Die Strahlung, die wir von unserem Mutterstern erhalten, ist strukturiert, ganz egal ob wir jetzt in Wellen (also raum-zeitlich strukturierten Feldern) oder in gequantelten Teilchen denken. Der Austausch der Energie zwischen uns und der Sonne wird angetrieben durch den Potentialunterschied in Bezug auf Wärmestrahlung, also der unterschiedlichen Temperatur zwischen Erde und Sonne.
Wir wissen ebenfalls, dass Materie nichts anderes als sehr hoch strukturierte Energie ist (sonst würde ja unser allseits beliebter Herr Einstein im Grabe rotieren). Was Dissipation nun vollbringt ist dass durch einen Puls einer Austauschgröße (etwa der vergleichsweise sehr wenig strukturierten Sonnenstrahlung) Vorgänge in einem System mit viel höherem Ordnungsgrad (etwa der Luft oder dem Wasserkreislauf, die ja bekanntlich eindeutig der Materie zugeordnet werden müssen) ausgelöst werden.
Bis hierher wird jeder sagen: „Klar, was soll dieses Wiederholen von einfachen Erkenntnissen, was für ein Allgemeinplatz!“. Das Interessante dabei ist aber, dass diese Vorgänge plötzlich ganz anderen Potentialsystemen gehorchen. Das Wasser, das den Berg herunter braust, kümmert sich keinen Deut um Temperaturunterschiede! Es folgt dem Potentialunterschied zwischen oben und unten, den eine räumlich gegliederte Oberfläche bietet. Der Tiger, der einen Büffel reißt kümmert sich auch nicht um den Temperaturunterschied zwischen ihm und seiner Beute! Für diese Vorgänge sind ganz andere Potentiale zuständig, Potentiale zwischen viel höher organisierten Systemen im Vergleich zu jenem, dessen Puls das Ganze ausgelöst hat.
Ich gehe noch einen Schritt weiter. Woher kommen denn diese ganzen Potentiale in den Systemen höherer Ordnung? Gäbe es die Täler ohne den steten Zahn des Wassers, das durch den Sonnenpuls immer wieder verdampft und abregnet? Gäbe es den Büffel oder den Tiger ohne die Dissipation der Sonnenstrahlung durch lebende Systeme, die die Nahrungskette für den Büffel darstellen? Die interessante Antwort ist wohl, dass Dissipation nicht nur der Motor von Vorgängen in immer höher strukturierten Systemen ist, sondern dass sich durch Dissipation immer weiter und höher strukturierte Systeme bilden. Der geheime „Trick“ der Selbstorganisation ist, dass sie nicht nur ein viel größeres Spektrum an Potentialen zur Dissipation nutzt, als sie im grundlegenden Puls vorfindet, sondern dass sie sich weitere Potentiale selbst bildet, in dem sie immer höher organisierte Strukturen entwickelt, die wieder viel höher strukturierte Austauschgrößen mobilisieren. Man könnte daher einen „dissipativen Grundlehrsatz der Selbstorganisation formulieren“: Ein selbstorganisierendes System ist umso effizienter, je größer die Bandbreite seiner verfügbaren Potentiale ist und es ist umso erfolgreicher, je schneller es neue, höher organisierte Systeme generiert und damit die Bandbreite seiner dissipativen Potentiale erweitert.
Nach diesem ein bisschen nach „ex-catedra“ riechendem Lehrsatzaufgestelle nun zum zweiten Punkt meiner Antwort: Vielfalt als Grundlage der Evolution. Es folgt eigentlich recht logisch aus dem vorher gesagten. Vielfalt an Strukturen bedeutet auch Vielfalt an möglichen Austauschgrößen. Strukturen sind ja immer der Spiegel ihrer möglichen Interaktionen mit ihrer Mitwelt, wobei diese Austauschvorgänge immer alle „gleichen und unteren“ Ebenen umfassen. Jeder Mensch kann sowohl in eine intensive, intellektuell hochstehende Diskussion mit seinesgleichen treten als auch einen Stein über das Wasser eines Sees hüpfen lassen oder mit einer Wärmflasche in Wärmeaustausch treten. Strukturen und ihre möglichen „Dissipationsebenen“ sind also wechselseitige Spiegel!
Hier kommen nun die „Sternstunden der Evolution“ ins Spiel. Immer dann, wenn neue Kombinationen dieser Austauschebenen entstehen, die Wechselwirkungen auf diesen „neuen“ Dissipationsebenen sich verfestigen, immer dann gibt es einen Evolutionssprung, neue Systeme entstehen und damit neue Austauschebenen und Dissipationspotentiale.
Ein Beispiel aus der Menschheitsgeschichte soll dies veranschaulichen: Vor vielen tausenden von Jahren trat der Mensch in eine neue, qualitativ andere Art der Wechselwirkung mit der Natur. Durch Verfestigung der Auseinandersetzung mit den ihn umgebenden Pflanzen (die er bisher gesammelt hatte), durch neue Ideen und Technologien entstanden aus der Selbstreflexion innerhalb der menschlichen Gesellschaft, entstand der Ackerbau. Plötzlich war eine ganz neue „Dissipationsebene“ eingeführt, der Austausch von Gütern über die reinen Familienverbände hinaus. Konsequenterweise entstanden neue Strukturen wie Städte und Reiche, auf deren Ebene und nach deren Regeln diese Dissipation erfolgen konnte. Neue Potentiale (die ökonomischen und sozialen Potentiale) entstanden und formten in der Folge die Welt.
Ich glaube, das wir uns auch in unseren weiteren „Zukunftspost-Dissipationsvorgängen“ der interessanten Frage widmen sollten, wie den diese „Sternstunden der Evolution“ nun zustande kommen. Ich weiß hier noch keine allgemeine Antwort, aber einige Elemente werden schon klar. Einerseits bedarf es offensichtlich der Reflexion, also der Wechselwirkung und deren Verstätigung in einem System. Du hast hier bereits darauf Bezug genommen mit Deinen Ausführungen zu „stehenden Wellen“. Andererseits bedarf es eines ausreichenden und kritisch werdenden Flusses (vielleicht war das im Ackerbau die Anzahl der Menschen an einem bestimmten Ort). Und schließlich bedarf es eines „Auslösers“, sehr ähnlich den Bifurkationspunkten von Prigogin. Wie das aber genau ablauft sollte Teil nseres weiteren „Matches“ sein!

Soviel für heute und viele Grüße an all die Deinen


Michael

1 Kommentar:

  1. eine schoene Sache, eure zukunftspost. noch schöner wäre es, wenn auch tatsächlich ein prozess in gang käme über das zu wenig komplexe sich selbst genügende ping pong zweier geistesgroessen hinaus. zukunft machen geht halt anders. da muss man sich auf potentiale tatsaechlich einlassen und nicht nur an der oberfläche gründeln..

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