Freitag, 19. Februar 2010

Demokratie (o)der Selbstorganisation

Lieber Willy,

vielen Dank für Deine letzte zukunftspost, und wie immer, bitte um Vergebung für meine späte Antwort. Ich bin sehr glücklich darüber, dass Du meinen neuen Aufschlag so gut angenommen hast und Dich gleich mitten in die Diskussion über die gesellschaftlichen Auswirkungen unserer bisher besprochenen naturwissenschaftlichen Ansichten gemacht hast. Wie es Deine Art ist, hast Du gleich eine „konzentrierte Ladung“ neuer Ideen und Ansätze geliefert, die ich, wie es meine Art ist, langsam „auseinander dröseln“ möchte!
Zuerst einmal wende ich mich der politischen Dimension des Wandels zu, und hier kommen wir gleich zu einer ganz ketzerischen Frage: Passen Demokratie und Selbstorganisation zusammen? Müssen wir nicht eigentlich eine Art „Öko-Absolutismus“ einführen, so nach dem Motto: „Die Macht geht von der Natur aus und sie wird an aufgeklärte Ökodiktatoren gegeben, die das Wohl der Menschheit und ihrer Umwelt weise verwalten“?
In meiner letzten zukunftspost habe ich die Auffassung vertreten, dass wir aus der Beobachtung dessen was ist zwar nicht auf die Zukunft schließen können, aber wohl einen Leitfaden entwickeln können, wie man Zukunft „macht“. Gerade im Bereich unseres politischen Systems (und hier beziehe ich mich auf Österreich im Besonderen und Europa im Allgemeinen) kann man das sehr schön vorexerzieren. Dabei braucht man aber einen ziemlich guten Magen, denn das „Hinsehen auf Politik“ kann (zumindest hier in Österreich) denselben verrenken und durchaus die eigene Gesundheit gefährden.
Das Bild ist schnell gezeichnet: Wir bewegen uns rasend schnell von einer „diskursgetriebenen Demokratie“ zu einer „angstgetriebenen Demokratur“. Gerade hat mein Sohn Benedikt ein sehr interessantes Buch über die politische Kommunikation der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ, für alle Nicht-Österreicher: die populistische Rechtsaußenpartei bei uns) geschrieben. Aus diesem Buch habe ich sehr viel gelernt, vor allem aber, dass Parteien nur dann erfolgreich sind, wenn sie auf der Gefühlsklaviatur spielen und insbesondere die „Angstakkorde“ meisterhaft beherrschen. Parteiführer sind erfolgreich, wenn sie glaubhaft in den Lebenswelten der Wähler verankert sind, wenn sie Discos besuchen, fesch und attraktiv „rüberkommen“ und dem Wählervolk glaubhaft vermitteln können, dass sie nicht intelligenter sondern nur lauter als der Normalbürger sind. Das „Gegen etwas sein“, das „Alles Kontrollieren“ ist Programm. Lösungen werden keine erwartet, jede politische Handlung ist eine „Reform“, jede Reform tut weh, hilft „denen“ (also immer den anderen) und verschlechtert nur die Lebensqualität. Politisch zählt nur, „die anderen“ (Parteien, soziale Schichten oder gar „Ausländer“) zu bestrafen und aus dem Weg zu räumen. Kompromisse sind immer Niederlagen, die Wahrheit ein hinderliches Konzept und die Kommunikation mit dem Volk immer nur ein Monolog oder bestenfalls eine die laute Discomusik überbrüllendes Anbiedern an Potentielle Wähler. Das Ziel politischer Handlung ist die Verteidigung oder Erringung von „Macht“, die dann aber schlussendlich nichts macht.
Dieses Sittenbild der Politik ist natürlich sehr einfach zu erstellen, es verstellt aber den Blick auf die wirklich grundlegenden Defizite. Zuerst müssen wir uns fragen, was denn die Leitlinien der politisch Handelnden sind. Vor noch wenigen Jahren (vom 2. Weltkrieg bis vielleicht zu diesem magischen „68iger“ Jahr) hatten politische Parteien noch Ideologien: Aus dem Welt- und Menschenbild gespeiste, fest strukturierte Sichtweisen der wünschenswerten Zukunft und der dafür notwendigen gesellschaftlichen Strukturen, Handlungsweisen und Planungsgrundlagen. Wie Weltbilder im Allgemeinen waren diese Ideologien unverrückbar und nicht-hinterfragbar. Damit waren sie natürlich sehr praktisch im täglichen politischen Handeln, feste Leitlinien und Erklärungsmechanismen. Obwohl natürlich keine „Überzeugung“ des ideologisch anders gelagerten politischen Gegners erzielt werden konnte (Weltbilder kann man ja nicht „wegdiskutieren“!), so bildeten Ideologien aber zumindest eine solide Basis für Kompromisse. Zumindest so lange als die Lösungen nicht einer der Ideologien der beteiligten Parteien komplett widersprach.
In dieser Zeit waren die politischen Systeme entweder von einer Ideologie dominiert (etwa dem „Realen Sozialismus“) oder bipolar, so dass sich fast immer ein Kompromiss, der beiden dominanten Ideologien nicht vollständig entgegenlief, finden ließ. Darüber hinaus waren die dominanten Ideologien (die sozialistisch/kommunistische und die bürgerlich/kapitalistische) Kinder desselben „Ur-Weltbildes“, des mechanistischen Weltbildes des 19. und 20. Jahrhunderts. Das ist insofern interessant, als die Grundzüge des Begriffs „Fortschritt“ (also die Basis dessen, was wünschenswerte Zukunft bedeutet) in beiden Ideologien weitgehend auswechselbar waren (nicht jedoch die Antwort auf die Frage, wie die Früchte dieses Fortschritts verteilt werden sollten).
Die Grundelemente politischer Systeme waren einerseits streng hierarchische Verwaltungen, weitgehende stratifizierte Gesellschaften (kannst Du Dich noch an diese eindeutige Zuordnung Arbeiter = Sozialist, Bauer = Konservativer erinnern? Lang, lang ist’s her…) und die Stabilisierung der Gesellschaft durch unbegrenztes wirtschaftliches Wachstum. Für die (geschichtlich kurze) Zeit eines Vierteljahrhunderts hat uns das mechanistische Weltbild und seine ideologiegetriebene Politik in Europa Ruhe, Frieden und Wohlstand beschert, es hatte ja auch einiges gut zu machen!
Mit der Erkenntnis der Begrenzung der Welt bei gleichzeitiger Globalisierung des Handels, der Ideen und Informationen wurde dieses politische Modell zunehmend obsolet. Hier kann man trefflich streiten, warum das alles so gekommen ist. Meine Erklärung dafür ist einfach (und wir können sie ja vielleicht im nächsten Satz unseres Ping-Pong Spiels ein wenig näher unter die Lupe nehmen): Ein neues Weltbild dämmerte herauf, damit waren auch die Grundlagen der Ideologien unterhöhlt. Das habe ich aber schon ausführlich in meinem Buch dargestellt und möchte daher jetzt nicht näher darauf eingehen.
Wichtig ist vielmehr etwas anderes: Die Welt wurde zu kompliziert für eine bipolare, hierarchische Gesellschaftsordnung und für eine ideologiegetriebene Politik: Kompromisse zwischen zwei Auffassungen, noch dazu vor dem Hintergrund einer stetig wachsenden Wohlstandsbasis kann man relativ einfach erreichen. Schwierig wird es, wenn man mit den eigenen politischen Handlungen die Natur in ihrer ganzen Komplexität „miterwischt“ und wenn darüber hinaus auch Entscheidungen an ganz anderer Stelle unseres Planeten direkt auf uns Einfluss nehmen. Innerhalb kürzester Zeit zerbrach das monoideologische Regime des Realen Sozialismus und wir sind gerade Zeugen dessen, wie ihm sein feindlicher Weltbild-Bruder, das kapitalistische System vor lauter Gram allein auf der Ideologiebühne zurückgeblieben zu sein, über die Klippe der Geschichte nach springt.
Daher darf uns auch der derzeitige Zustand der Politik und ihrer handelnden Personen nicht wunder. Der festen Basis ihrer Ideologien beraubt und damit unfähig zum rationalen Diskurs über die wirklich entscheidenden Probleme gesellschaftlicher Entwicklung, tun sie nichts anderes als wir auch tun, wenn wir uns nicht mehr „auskennen“: Sie verlassen sich auf ihr „Gefühl“. Nun gibt es aber kein einigendes „Zukunftsgefühl“, ein Gefühl, dass den vakanten Stuhl der allgemeinen Fortschrittsdefinition einnehmen kann. Vielmehr gibt es Gefühle, die uns vor gewissen Richtungen der Entwicklung warnen: Die Ängste! Und damit gibt es derzeit einen Ersatz für Ideologien, den ich „Emologien“ nennen möchte: Einen Satz von Emotionen und vor allem Ängsten, der auf dem politischen Parkett zur Aushandlung verwendet wird. Ebenso wie Ideologien sind auch Emologien nicht hinterfragbar und sie werden zur politischen Identitätsstiftung eingesetzt. Der politische Diskurs wird also vordergründig um diese Emotionen geführt und hintergründig durch weitgehende Orientierungslosigkeit gelähmt. Unsere politischen Systeme sind wie das Kaninchen vor der Schlange: Gelähmt durch Angst, ohne wirklichen Plan zum Überleben und zu feige, die Entscheidung für die Zukunft zu übernehmen.
Erneut könnten wir hier in die Falle gehen und diesen Zustand, seine Auswirkungen und mögliche Auswege aus dieser „Krise des Politischen“ diskutieren. Wie gesagt, der Zustand ist zwar nicht schön, aber es ist nur ein Übergangsstadium (und dauert hoffentlich nicht zu lange). Wir sollten uns daher eher damit beschäftigen, was denn diese profunde Orientierungslosigkeit ausgelöst hat und wie wir „das Übel bei der Wurzel“ packen können.
Hier hilft uns Deine letzte zukunftspost: Eine wesentliche Wurzel liegt in der Notwendigkeit räumliche und zeitliche Systemgrenzen neu zu definieren. Regieren hat immer schon eine sehr stark räumliche Komponente gehabt. „Souveränität“ als ein wesentliches Zeichen für den Wirkungsbereich von Macht war im politischen Kontext immer an Raum, an Gebiet gebunden. Innerhalb des Gebietes, das man souverän beherrschte, konnten Entscheidungen durchgesetzt werden. Das souveräne Gebiet des Staates war „unverletzlich“, also keinen direktem Zugriff einer anderen Macht unterworfen. Aus dieser Auffassung von Machtausübung kommen unsere Staatsgrenzen, unsere Verwaltungsbezirke, unsere Gemeinden, ja jede politische Arena, auf der wir spielen! Raum und Politik sind untrennbare Zwillinge!
Die starren hierarchischen Gebietskulissen, die wir mit dieser Art des politischen „Raum-Macht-Kontinuum“ geschaffen haben, sind völlig ungeeignet die heute wesentlichen Probleme zu lösen. Damit werden aber auch gleichzeitig die politischen Instanzen in diesen „Alt-Herrschaften“, ob es nun Staaten, föderale Länder, politische Bezirke oder andere Verwaltungseinheiten sind, desavouiert. Hier hilft auch kein „Mehr an Demokratie“, keine direkte Demokratie und auch keine neuen Parteien: Der Raumzuschnitt ist einfach falsch, die Identifikation der Bürger mit diesen Einheiten ist weg und damit auch ihre Lösungskapazität.
Dieses Aufbrechen des politischen Raumes kommt aus zwei Quellen. Einerseits werden die alten Identifikationsgründe ausgehöhlt. Die Menschen werden mobiler, die historische Bindung an einen Ort wird schwächer, ebenso wie die sozialen Bande in einer sich radikal ändernden Gesellschaft. So sehr sich unsere Emologen auch winden und sträuben, die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe oder einer Religionsgruppe reicht heute als Identifikationsgrund mit einem Raum nicht mehr aus. Es gibt keinen Weg zurück zu einer agrarischen Gesellschaft mit strikter Raumbindung durch Geburt, Gesellschaft und Tradition!
Auf der anderen Seite haben die „Alt-Herrschaften“ oft wenig Relevanz für die heute wesentlichen Wechselbeziehungen zwischen Gesellschaft und Natur. Mit der Ausnahme von Inselstaaten sind die meisten derartigen Gebiete aus gesellschaftlichen Entwicklungen, aus politischem Kalkül oder aus verwaltungstechnischen Notwendigkeiten (denke etwa an die Regel, dass ein Gerichtsbezirk in Österreich an die Notwendigkeit, das Gericht in wenigen Stunden zu Fuß zu erreichen, gebunden war!) heraus geboren. Die Natur, ihre Ressourcen und ihre lebenserhaltenden Prozesse haben keine Rolle in der Grenzziehung gespielt. Für eine moderne Gesellschaft, die langsam aus dem fossilen Loch an das natürliche Sonnenlicht als Triebfeder der Wirtschaft kriecht, sind diese politischen Raumstrukturen einfach altmodisch und irrelevant.
Zusätzlich dazu kommt noch ein weiterer Effekt der Selbstorganisation: Die „Organismierung“. Auch wieder so ein Kunstwort von mir, aber ganz einfach zu verstehen. Selbstorganisation führt ja nicht nur dazu, dass sich Individuen in ökologischen Nischen optimal organisieren. Auf der Ebene der menschlichen Gesellschaft ist das etwa durch die (globale) Arbeitsteilung schon sehr weit fortgeschritten. Selbstorganisation führt insbesondere auch auf vollkommen neue Vergesellschaftungen, auf komplexe Organismen. Meine These ist nun, dass wir als Menschliche Gesellschaft gerade einen Prozess der „Organismuswerdung“, eben der „Organismierung“ durchmachen.
Sehen wir uns einen Organismus an. Natürlich gibt es da Arbeitsteilung: Die Organe im menschlichen Körper sind dafür ja hervorragende Beispiele. Wir haben aber auch eine Durchdringung der einzelnen Systeme in räumlicher Hinsicht. Denke etwa an ein Blutgefäß in der Leber: Räumlich gehört es zur Leber, es gehört aber gleichzeitig auch zum Gefäßsystem. Damit bricht in Organismen die strenge Ausschließlichkeit der (räumlichen) Zuordnung, es bricht die räumliche „Souveränität“. Unsere Ader in der Leber muss zwei Herren dienen, der Leber und den Blutgefäßen, sie muss auch zwischen diesen beiden Herren vermitteln, sie schließt die Leber an den „internationalen“ Körper an.
Dieses Bild ist sicher sehr vereinfachend und soll ja auch nicht mehr sein als eben ein Bild. Was aber wichtig ist dabei ist der Bruch in der Hierarchie des Raumes, der durch die Komplexität von Organismen, die durch Selbstorganisation entstanden sind, erfolgt. Wir sind eben nicht Bürger EINER Region, wir leben in vielen Regionen gleichzeitig. Diese Regionen sind auch nicht hierarchisch gegliedert, sie schließen sich nicht aus auf derselben Ebene. Sie überlappen sich, durchdringen sich. Was aber das wesentliche daran ist: Die Regionen, in denen wir leben und handeln, sind funktional definiert, so wie eben die Leber eine Funktion hat und auch das Blutgefäßsystem.
Und hier sind wir an einem ganz wesentlichen Defizit der bestehenden politischen Systeme: Ihr Raumzuschnitt beachtet diese verschiedenen Funktionen überhaupt nicht! Auf dieser Basis kann sich keine selbstorganisierende Gesellschaft entwickeln!
Für jede zukünftige Ordnung des politischen „Raum-Macht-Kontinuum“ muss daher gelten: „form follows function“, die räumlichen Zuschnitte, in denen Entscheidungen getroffen werden, müssen auf die Funktionen abgestimmt sein. Was eine gute Region für die Verwaltung erneuerbarer Ressourcen ist, muss noch lange keine gute Region zur Organisation der Bildung sein. Was eine gute Region zur Verwaltung des gesellschaftlichen Einflusses auf den lebenserhaltenden Wasserkreislauf ist hat nichts mit der optimalen Region zur Organisation des Rechtswesens zu tun. Damit wird Dein in der letzten zukunftspost beschworenes „selbstorganisiertes Europa“ und ein „Europa der Regionen“ fast synonym, wenn auch in der heutigen politischen Auffassung die Regionen noch hierarchisch und mittelalterlich pfründeorientiert gesehen wird.
Wenn wir weiter die Demokratie als die „politische Leitkultur der Selbstorganisation“ sehen (und davon bin ich überzeugt!) stellen sich natürlich gleich eine Reihe sehr interessanter demokratiepolitischer Fragen. Ich werde die heute nicht wirklich beantworten, Dir wohl aber einen „geschnittenen Ball“ auf den Tisch spielen, und ein wenig provozieren.
Zuerst einmal möchte ich unserer Diskussion einen Rahmen geben: Demokratische Systeme die nach dem Repräsentationsprinzip (also der Entsendung von politisch Handelnden durch ein Volk) basieren, können über drei Parameter beschrieben werden:
• Wer entsendet?
• Wie wird entsandt?
• Wie verhandeln die Repräsentanten miteinander?
Beginnen wir mit dem ersten Punkt. In einem auf funktional definierten Raumzuschnitten basierenden politischen System muss vom Prinzip der allgemeinen Vertretung abgegangen werden. Nicht mehr jeder darf über alles bestimmen. Es wäre ja auch im Organismus nicht besonders hilfreich, wenn die Leberzellen darüber abstimmen, dass das Blut ab jetzt blau zu sein hat!
Vielmehr muss Demokratie als ein „Angebot der Mitbestimmung an Betroffene“ gesehen werden. Das bedeutet, dass jene, die an einer bestimmten Funktionalität interessiert sind, mitbestimmen sollen. Hier kommt der große Bruch mit den derzeitigen Systemen: Das geht nur, wenn man zwei Prinzipien beachtet: Freiwilligkeit und Offenheit.
Freiwilligkeit bedeutet, dass (im Gegensatz zu heutigen Demokratiesystemen) das „Volk“ nicht verfassungsmäßig allein durch seinen Wohnort oder seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe (etwa wie in Österreich im Falle der vielen sozialpartnerschaftlichen Kammern) definiert wird, sondern durch aktive Anteilnahme an der Mitbestimmung. In diesem Fall wird also nicht nur der Vorgang der Entscheidungsfindung der Selbstorganisation unterworfen, sondern auch gleich der Aufbau der Entscheidungsstrukturen!
Freiwilligkeit erfordert Identifikation. Nur wer sich mit etwas identifiziert, sich als „zugehörig“ erkennt, wird freiwillig an den Entscheidungen in einer Körperschaft beteiligen. Hier kommt der räumliche Zuschnitt zum Tragen. Der Raum ist für ein territoriales Wesen, wie es der Mensch nun einmal ist, eine der wichtigsten (wenn auch nicht die einzige) Identifikationsmarke. Daher auch das bereits oben beschriebene „Raum-Macht-Kontinuum“, das unsere Politik beherrscht. Das wird sich auch in einer selbstorganisierenden Gesellschaft nicht ändern. Wir sehen das heute bereits sehr stark bei Regionalentwicklungsprozessen: Die Identifikation ist der entscheidende Schritt zur Regionswerdung. Darüber sollten wir in einer der nächsten zukunftspost-Sendungen noch einmal im Detail diskutieren!
Freiwilligkeit muss aber durch das Prinzip der Offenheit abgestützt werden. Keine Person, die aktiv mitarbeiten will, darf ausgeschlossen werden. Damit soll verhindert werden, dass das Ganze zu einer Klüngelwirtschaft verkommt und nur jene, die etwas ganz Bestimmtes durchsetzen wollen die Macht übernehmen.
Im Ganzen ist das natürlich eine vollkommene Abkehr von der bisherigen Auffassung von Demokratie: Man hat zwar das verbriefte Recht, überall mitreden zu können, man erwirbt sein „aktives Wahlrecht“ aber eben durch Mitarbeit. Teilnahme am Entscheidungsprozess wird damit zu einer Bringschuld.
Das klingt zuerst einmal ziemlich revolutionär, ist es aber gar nicht. Schon heute basieren die meisten funktionierenden Regionen (also jene, in denen wirklich was weitergeht) auf diesem Prinzip. Ganz zu schweigen von jenen Bereichen, in denen Menschen tatsächlich Verantwortung übernehmen, etwa in all den vielen Vereinen, die das eigentliche Rückgrat unserer Gesellschaft (zumindest hier in Österreich) sind.
Nun kurz zum zweiten Punkt, wie denn die Repräsentanten bestimmt werden. Ich glaube, dass dieser Punkt nicht allgemein festgesetzt werden kann und soll. Der Wahlmodus muss, so wie auch die Festlegung der anderen Regeln der Entscheidungsfindung, den einzelnen Körperschaften überlassen werden. Funktionalität, aber auch kulturelle Aspekte haben hier wesentlichen Einfluss und werden zu einer Diversität in den Lösungsansätzen führen.
Wichtiger als die Frage des Auswahlmodus ist aber die Beachtung sind die Prinzipien des Vertrauens und der Verbindlichkeit. Wir sind ja gewohnt, im politischen Spiel immer über Verantwortung zu reden und dann lautstark die Verantwortungslosigkeit der politisch Handelnden zu beklagen. Wir vergessen dabei, dass dieses Prinzip grundsätzlich unerfüllbar bleiben muss. Keine gesellschaftliche Handlung kann von einer einzelnen Person „verantwortet“ werden, nicht der Tod eines Soldaten, der auf Grund eines politischen Entschlusses in den Krieg geschickt wurde, nicht die Krankheit vieler auf Grund der Umweltbelastung, die wir in unseren Gesetzen zulassen (oder auch nur nicht ahnden). Wer könnte dafür denn die Verantwortung übernehmen und was würde das für diese Person bedeuten? Also lassen wir den Verantwortungs-Zinnober getrost weg!
Eine selbstorganisierende Gesellschaft muss vielmehr auf dem Vertrauen und auf der daraus resultierenden Verbindlichkeit aufbauen. Vertrauen muss das soziale Kapital sein, das Repräsentanten für ihre Tätigkeit mitbringen. Dieses Vertrauen muss natürlich auch gepflegt werden, durch Transparenz und die Handlungsmaxime, MIT den Betroffenen (die ja das jeweilige „Volk“ ausmachen) und nicht ÜBER sie zu regieren.
Vertrauen muss aber nicht nur zwischen Repräsentanten und jenen, die sie entsenden herrschen. Es muss auch zwischen den Betroffenen selbst vorhanden sein. Nur dann kann Verbindlichkeit entstehen und nur dann kann gehandelt und entschieden werden.
Ich lasse diesen Gedanken einmal so als „Baustelle“ für unsere weitere Diskussion stehen. Nur soviel möchte ich noch dazu sagen: Es ist klar, dass wir eine solche selbstorganisierende Gesellschaft nicht verordnen können. Sie muss entstehen, sich eben selbst organisieren. Vertrauen und Verbindlichkeit sind Resultate eines Prozesses. Für beide gilt, dass örtliche Nähe ein wichtiger Katalysator ist. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass eine solche selbstorganisierende Gesellschaft „von unten“ aufgebaut werden muss.
Nun zum dritten und heikelsten Punkt: Wie sollen die Repräsentanten miteinander verhandeln? Hier müssen wir zuerst zwei unterschiedliche Diskurse definieren. Einerseits den Diskurs zwischen Regionen mit derselben Funktionalität (etwa zwei oder mehrere „Wasserregionen“ oder „Energieregionen“). Innerhalb ihrer Funktionalität werden Regionen wenig bis keine Überlappungen haben, hier wird auch nach wie vor eine hierarchische Ordnung vorherrschen. Dieser Diskurs wird daher nach dem Prinzip der Subsidiarität ablaufen, das wir ja bereits bisher in hierarchischen Politiksystemen haben (sollten!).
Viel interessanter ist aber die zweite Diskursform: Die zwischen unterschiedlich funktionalen Regionen über Entscheidungen im gleichen Raum. Also der Diskurs zwischen Ader und Leberzellen, wie es denn in ihrem gemeinsamen Umfeld weitergehen soll. Oder der Diskurs zwischen einer „Wasserregion“ und einer „Energieregion“ über die Zukunft eines bestimmten Feuchtgebietes.
Ich weiß hier keine Lösung im strengen politikwissenschaftlichen Sinn. Ich möchte aber auch hier ein bisschen provozieren: Ich glaube es gibt so etwas wie eine „invisible hand“ für selbstorganisierende Gesellschaften, nämlich raumgebundene Visionen. Diese Visionen werden in vielem die Rolle der Ideologien (oder eben der Emologien der derzeitigen Politik) übernehmen. Sie werden Richtschnur und Maßstab der Entwicklung sein.
Jene regionale Körperschaft, die die stärkste Vision generiert, wird auch die stärkste Identifikationskraft ausüben. Auch hier würde ich der Selbstorganisation ungern „dreinreden“; ich würde das von Fall zu Fall, von Region zu Region eben selbst entstehen lassen. Diese Körperschaft wird die Themenführerschaft in diesem Diskurs übernehmen.
Die Methodik des Diskurses wird sehr stark durch Szenarien geprägt werden. Jede Region, die an einem solchen Diskurs teilnimmt, wird Zukünfte (und die handlungen, diese zu erreichen) aus ihrem Blickwinkel einbringen. Der Vergleich an der „Leit-Vision“ schließlich wird zu einem umfassenden, gesamthaften Vorgehen „im Raum“ führen, der von allen getragen werden kann.

Lieber Willy, verzeih dass es diesmal ein wenig länger geworden ist. Ich habe natürlich, wie es meine Art ist, einen sehr breiten Pinsel verwendet für mein Bild. Viel ist noch auszufüllen, aber das wird ja Gegenstand unserer weiteren zukunftspost. Ich freue mich schon auf Deinen nächsten Beitrag!

Dein

Michael

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