Sonntag, 22. November 2009

Mit oder gegen die Selbstorganisation - Der Auftakt zur Zukunft

Lieber Willy,

leider ist wieder viel Zeit ins Land gegangen, seit Du mir Deine letzte Zukunftspost geschickt hast. Für meine späte Antwort gibt es viele Gründe, aber einen ganz wichtigen: Ich glaube, wir treten in eine neue Qualität in unserem Diskurs.
Um in unserem Gleichnis des Ping-Pong zu bleiben, das wir ja für unseren gemeinsamen Weg der Gestaltung der Zukunftspost immer wieder strapazieren: Deinen letzten Ball konnte ich nicht mehr retournieren, Du hast den Punkt gemacht! Ich glaube wir haben vorerst einmal alles gesagt, was die naturwissenschaftliche Grundlage für unser weiteres Vorhaben darstellt.Wir wollen ja Lösungsansätze für einen guten Weg in die Zukunft bieten. Sollte es wirklich wichtig sein, hindert uns niemand daran, wieder naturwissenschaftlich weiter zu argumentieren. Jetzt wollen wir uns aber den Folgerungen zuwenden, die sich aus unserer Sicht der Realität im Allgemeinen und der Selbstorganisation im Besonderen für die konkrete gesellschaftliche Entwicklung ergeben.
Ich werde also einen Aufschlag machen. Wie jeder Aufschlag will auch dieser gut überlegt und gut gesetzt werden. Das ist mit ein Grund für die lange Zeit meines Schweigens, aber ich glaube, jetzt habe ich den Punkt auf Deiner Hälfte des Tisches ausgemacht, den ich treffen will um wieder zu einem guten Spiel zu finden. Vorerst aber muss ich mich in Position stellen, muss ganz genau meinen eigenen Standpunkt finden, damit ich den Aufschlag richtig setzen kann. Daher muss ich Dich noch ein wenig mit meiner Sicht über die Zukunft und auch meiner Meinung über den Zweck dieses nächsten "Spieles" aufhalten.
Zuerst muss ich natürlich zugeben, dass niemand weiß, wie die Zukunft tatsächlich aussehen wird. Auch ich nicht, und ich glaube, selbst Du nicht. Es gibt einfach keine Möglichkeit der Vorhersage. Trotzdem tun es die Menschen seit Anbeginn der Zeit, auch wenn sie seither immer entäuscht wurden. Selbst heute sehen wir gebannt den Wetterbericht im Fernsehen, wohl wissen, dass das Wetter so, so ähnlich oder ganz anders sein kann. Es muss also etwas zutiefst menschlich Notwendiges in der Zukunftssicht liegen und es kann nicht der Wahrheitsgehalt der Vorhersage sein, denn sonst müssten wir uns das schon lange evolutionär abgewöhnt haben.
Das wesentliche am Blick in die Zukunft erscheint mir die Möglichkeit der Orientierung der eigenen Handlungen. Wir bereiten uns ständig auf die Zukunft vor. Wir wollen das Beste aus unserer Zukunft und auch der Zukunft der Menschen in unserem Lebenskreis, unseren Familien und Freunden, unseren Städten und Ländern, ja der ganzen Welt, machen. Es ist schon ganz interessant, dass dieses "In-die-Zukunft-Blicken" sehr parallel zu unserem ethischen Grundgerüst läuft: Auch unsere Ethik verwenden wir, um unsere Handlungen zu orientieren. Übrigens hält diese Analogie auch im Bewertungsbereich: Wir nehmen unsere Erwartungshaltung von der Zukunft als Meßschnur für die Bewertung des Erfolges unserer Handlungen. Ebenso nehmen wir unser ethisches Gerüst dazu, unsere Handlungen ex-post zu bewerten.
Warum ist mir dieser Exkurs wichtig? Einerseits möchte ich damit zeigen, dass der Blick in die Zukunft für uns Menschen wichtig, ja lebensnotwendig ist. Er macht uns zu Menschen, er erlaubt uns die Planung und Bewertung unserer Handlungen.
Andererseits möchte ich auch darauf hinweisen, wie eng unser Wertesystem und unsere Zukunftssicht miteinander verwandt und verwoben sind. Zukunft ist offenbar jener Ort, an dem sich unsere vorausschauende Ratio und unser Ethos treffen.
Zukunftsicht hat offensichtlich zwei Seiten: Eine ethische und eine rationale. Eine die das Feld des Wünschenswerten beschrebt und eine, die das Mögliche, das Wahrscheinliche beschreibt. Auch wir werden uns n der zukunftspost dieser Dichotomie nicht entziehen können, wenn gleich wir stark auf der rationalen Seite spielen werden.
Nun zu einer zweiten Koordinate meines Standpunktes. Wenn wir einmal metaphysische Methoden zur Zukunftssicht außer Acht lassen (also all die netten Damen mit Kristallkugeln, die unterschiedlichen Orakel von Delphi und Olympia, die Leberbeschau und die Deutung des Vogelfluges u.v.a.m., ganz schön umfassend, was die Menschen zur Befriedigung ihres Zukunftsdranges alles verwenden!), dann steht uns zur Bestimmung der Zukunft nur das Wissen der Gegenwart zur Verfügung. Schon sind wir in einem netten und unentrinnbaren Paradoxon: Wir wissen nur sicher, dass die Zukunft anders sein wird, als die Gegenwart. Trotzdem müssen wir das zur Hand nehmen, was wir über die Gegenwart wissen. Eigentlich ein klassischer Fall von unzureichendem Werkzeug, so als wollte man mit einem Schraubenzieher einen Nagel aus der Wand bekommen.
Hier stehen wir vor einer Falle, genauer gesagt, vor einer Wissenschaftsfalle. Viele wissenschaftliche Theorien beschreiben Abläufe: Die Bahn der Planeten, den Fortschritt einer chemischen Reaktion, etc. Daraus wird (vollkommen fälschlich) abgeleitet, dass die Wissenschaft, insbesondere die Naturwissenschaft, eine Sonderstellung bei der Zukunftssicht einnimmt. Sie wird immer als ein besonders zuverlässiges Orakel angesehen. Nun wenn Wissenschaft im Allgemeinen so gut in die Zukunft sehen könnte, dürfte es die gerade laufende Wirtschaftskrise nicht geben. Und wenn Naturwissenschaft im Besonderen dazu in der Lage wäre, dürfte es keine menschgemachten Katastrophen wie Chernobyl oder den vertrockneten Aralsee. Darüber hinaus würde der Wetterbericht immer stimmen. Genug Beweise für das Gegenteil! Aber wie wir bereits diskutiert haben: Wissenschaft hat nichts mit Wahrheit, aber alles mit einer sehr effizienten Methode zur Auseinandersetzung mit der Realität zu tun. Es wäre eine fatale Fehleinschätzung der Wissenschaft, sie sozusagen zu einem "Über-Orakel" zu degradieren!
Ebenso kann man auch einer zweiten, weit verbreiteten Falle gleich am Beginn ausweichen: Der "Zukunftsforscher" Falle. Da liegt die Pikanterie ja schon im Namen: Wie will man etwas "beforschen" (sich also mit der Realität auseinandersetzen), das es per definitionem nicht gibt? Also beforschen unsere wackeren Zukunftsforscher unverdrossen die Gegenwart und auch die vergangenheit, stellen Trends (und wenn sie gar nicht mehr weiter wissen, sogar "Megatrends") auf, und schließen vom Heute aufs Morgen. Das widerspricht der einzigen wirklichen Erfahrung, die wir über den steten Übergang vom Jetzt in die Zukunft gemacht haben: Die Zukunft ist anders, sie ist überraschend und sie ist der Quell von "Neuem", "Noch-nie-Dagewesenem". Also auch diese verlockende Basis der Zukunftssicht ist unhaltbar (wenngleich sie amüsante Bücher abgibt, die auch durchaus lesenswert, wenn schon nicht "glaubens-wert" sind.
Wo also stelle ich mich hin? Von wo aus werde ich den Aufschlag in die Zukunft wagen? Nun, der einfachste Ausweg ist, die Zukunft nicht "vorher zu sagen". Das erspart auch gleich jegliche Schererei mit nicht eingetroffenen Prophezeiungen. Ich werde daher nur Prinzipien der Entwicklung, die wir aus den früheren Diskursbeiträgen ableiten können, verwenden. Und ich werde ihre logische Verknüpfungen, ihre Wechselwirkungen aufzeigen. Also keine Vorhersage, wie die Zukunft aussieht, sondern eine Anleitung, wie man Zukunft "macht".
Ich weiß schon, dass ich damit den Mund ziemlich voll nehme. Aber ich glaube wir müssen zuerst einige überkommene und versteinerte Betrachtungsweisen einreißen, um sinnvoll an den Bau des Gebäudes der Zukunft gehen zu können. Und wir müssen einiges riskieren in diesem Bauvorhaben. Aber wie heißt es so schön in der dritten und sehr wenig gesungenen Strophe der Österreichischen Bundeshymne: "Mutig in die Neuen Zeiten, frei und gläubig sie uns schreiten...". Ich habe nun einmal ein Faible für dritte Strophen, sie werden zwar kaum gesungen, haben aber oft viel Weisheit in sich.
Damit komme ich zur letzten Standortangabe, die ich vor meinem Aufschlag machen muss. Aus meiner Sicht stehen wir vor einem sehr scharfen Bruch bei unseren nächsten Schritten vom Heute ins Morgen. Diese Erkenntnis basiert auf einer Analyse der Gegenwart. Wir sehen starke ökologische Herausforderungen: Die großen Kreisläufe der Natur sind im Wanken, wir haben ein Artensterben sonder gleichen, wir stoßen an die ökologischen Belastungsgrenzen fast aller Ökosysteme, in denen Menschen wohnen. Wir stehen vor einer tiefgreifenden Veränderung der Ressourcenbasis unserer Gesellschaft, da Erdöl und Erdgas in absehbarer Zukunft in immer geringeren Mengen zur Verfügung stehen. Wir mitten in einer Wirtschaftskrise, die keiner kommen sah und von der niemand weiß, wie die Wirtschaft "nachher" aussehen wird. Wir stehen vor ganz massiven Umwälzungen im politischen Bereich, mit einem Europa, das nach außen und innen wächst, mit den USA, die als Weltmacht langsam verblassen und mit ganz neuen Spielern wie China und Indien, aber auch dem politischen Islam auf der Weltbühne. Ich erwarte nicht mehr und nicht weniger als eine "Zeitenwende", eine jener außergewöhnlichen Zeiten, in denen sich die Logik der Entwicklung auf allen Gebieten verändert. Gerade in solchen Zeiten ist es sowohl dumm als auch sträflich, aus dem Hier und Heute das Morgen ableiten zu wollen!
So, ich stehe fest, und jetzt mein Aufschlag: Zukunftsicht wird immer durch des Menschen Bild von der Entwicklung, von den sie formenden Kräften, geprägt. Erkennt man diese, so kann man zwar nicht die Zukunft vorhersagen, aber wohl die Beweggründe und Motivationen der Handlungen, die von Menschen gesetzt werden. Weiter geschlossen, man weiß zwar nicht, WAS die Menschen bauen, aber man weiß WARUM sie es bauen wollen.
Das ist sozusagen einmal der "Drall", den ich meinem Ball mitgebe. Nun kommt die Richtung: Das Entwicklungsparadigma dieser Zeitenwende ist die Selbstorganisation, also genau jenes Gedankengebäude, dass wir in unserer zukunftspost aus wissenschaftlicher Sicht aufgebaut haben. Vorbei ist die Zeit des mechanistischen Bildes von der Entwicklung als Ablauf einer kosmischen Maschine. Vorbei die damit verbundenen Logiken, die des Wachstums ebenso wie die der Unabhängigkeit der Systeme bis hin zur radikalen, ungebundenen Individualität der Menschen, ihrer Loslösung von der Natur und vom Los der anderen Menschen.
Da fliegt er nun, mein Ball. Jetzt warte ich auf Dein "Return" mit großer Vorfreude. Bauen wir eine Handlungsanleitung für Zukunft auf der Basis der Selbstorganisation auf! Was wäre das für ein Spiel!

Mit vielen Grüßen an Dich und die Deinen

Dein Michael